Reflexionen über Fragen der Forschung
Gehirnmetapher und Kontaktnetz (Weiterentwicklung)
Eintrag 3
Jean-Pol Martin (19.10.96)
Wenn ich das Kontaktnetz mit einem Gehirn vergleiche und die einzelnen Teilnehmer im
Kontaktnetz mit Neuronen, so funktioniert das "Gehirn" dann gut, wenn die
einzelnen Neuronen aktiv sind und mit den anderen Neuronen häufigen Kontakt pflegen. In
der Tat: die Gehirnforschung lehrt, daß "Lernen" u.a. dadurch entsteht, daß
bestimmte Neuronenverbindungen durch häufigen Gebrauch stabilisiert und gefestigt werden.
Wenn ich also möchte, daß das Kontaktsystem "lernt" (Stichwort "lernende
Organisation"), dann muß ich also dafür sorgen, daß Verbindungen zwischen den
Teilnehmern entstehen und daß diese Verbindungen durch häufigen Gebrauch stabilisiert
werden. Ich muß also überlegen, wie die Teilnehmer zu häufigen Interaktionen gebracht
werden. Die Sozialpsychologie lehrt, daß ein häufiger Kontakt dann gesucht wird, wenn
dieser Kontakt auch "Belohnung", also Freude verspricht. Diese Freude kann
entstehen, wenn zwei Leute sich auf die gemeinsame Leitung einer AG auf einem LdL-Treffen
vorbereiten, und wenn sie diese AG erfolgreich halten. Im Kontaktnetz besteht die
Möglichkeit, durch Kontaktaufnahme mit anderen Teilnehmern (Teamarbeit) und durch
Auftritte (Vorträge) große Freude ("Kicks") zu erleben. Das ist seit bald zwei
Jahrzehnten meine ständige Erfahrung, das ist die Erfahrung meiner Schüler und aller
anderen, die mit mir zusammenarbeiten. Meine Aufgabe und die von MANFRED LIRSCH ist es
also, einen Rahmen zu schaffen, in dem die einzelnen Teilnehmer am Kontaktnetz
"Kicks" erleben, sowohl im Unterricht beim erfolgreichen Einsatz von LdL als
auch bei Auftritten in Fortbildungsveranstaltungen (seit längerer Zeit befasse ich mich
mit den neurologischen Prozessen im Organismus bei emotionalen Erlebnissen und mit der
Natur von "Kicks"). Ferner müssen Manfred Lirsch und ich dafür sorgen, da die
Kommunikation zwischen den Mitgliedern gefördert wird. Hier wird auf lange Sicht die
Homepage entscheidende Hilfe leisten, denn über sie können die Teilnehmer mittelbar und
unmittelbar mit allen anderen Teilnehmern Kontakt aufnehmen und aufrechterhalten.
Es scheint mir auch wichtig, daß ich diese theoretischen Überlegungen sofort jedem
Interessierten zugänglich mache. Denn im Kontaktnetz übernehme ich ja die Rolle, die der
Frontalcortex im Gehirn erfüllt (Planung und Zielsetzung). Über meine bisherigen
Publikationen hatten nur ganz wenige die Möglichkeit, diese Hintergrundgedanken
kontinuierlich zu verfolgen. Jetzt hat jeder Zugang zu meinen Überlegungen, sofern er
diesen Zugang wünscht und sucht. Dazu braucht er nur mein Tagebuch in der Homepage
anzuklicken.
Nachgedanken zu meinem Vortrag in Hof am 17.10.
In Hof traf ich auf STEFAN KLEIN, der mich eingeladen hatte; später bekam ich die
Gelegenheit, mit einer jungen Kollegin (Sport/Englisch) ein ausführliches Gespräch zu
führen. Durch diese Begegnungen wurde mir klar, daß an vielen Schulen Kollegen sitzen,
die die Energie, die intellektuelle Kraft und das Talent haben, die "Schule von
morgen" mitzuentwerfen und mitzugestalten. Natürlich war mir dies auch vor dem
Besuch in Hof klar, aber in Hof leuchtete in diesen Kollegen eine solche Qualität auf,
daß - um auf die Gehirnmetapher wieder zurückzugreifen - die Dringlichkeit, diese
"Neuronen" mit den anderen zu verknüpfen, noch bewußter wurde. Entsprechend
ermutigte ich die beiden auch, sich über eMail und Homepage stärker in die Diskussion
einzuschalten.
"Homepageforschung": Schritt zu einer neuen Wissenschaft
Ich habe in meinem Tagebuch bereits erwähnt, daß die Forschung -zumindest im
geisteswissenschaftlichen Bereich - durch extreme Langsamkeit gekennzeichnet ist,
teilweise auch durch das Zurückhalten von Ideen solange sie nicht veröffentlicht sind.
Mit dem von mir jetzt eingeleiteten Verfahren eines Tagebuchs in der Homepage wird die
entgegengesetzte Strategie eingeschlagen. Die theoretischen Reflexionen werden sofort zur
Diskussion freigegeben. Die Überlegungen, die am Samstag im Anschluß an eine
Veranstaltungen entstanden sind, werden in die Homepage gegeben und können sofort von
allen Teilnehmern gelesen und diskutiert werden. So können, wenn sie technisch
ausgerüstet sind, die Kollegen aus Hof sofort Kommentare zu meinen Gedanken nach dem
Besuch am vergangenen Donnerstag abgeben, die wiederum von allen gelesen werden, usw.
Dadurch wird das kollektive Denken enorm beschleunigt. Während die traditionelle
Wissenschaft immer noch der Gehirnstruktur eines Bandwurms entspricht (zentralisiert,
langsam und mit wenig Querverbindungen zwischen den Neuronen) entspricht das von mir hier
dargestellte neue Forschungsmodell dem Gehirn eines Menschen (dezentralisiert, schnelle
Interaktionen zwischen allen Neuronen).
Das ist eine Antwort auf die Frage der jungen, klugen Lehrerin in Hof, die mich fragte,
ob ich Gedanken, die für das LdL-Projekt und für die Forschung relevant sind, für mich
behalte. Eben nicht, im Gegenteil. Meinen Rang als Forscher werde ich nicht aus der
Publikation von einigen abstrakten und wenig rezipierten Schriften ableiten wollen,
sondern von der Schaffung eines Rahmens innerhalb dessen viele Menschen in produktiver
Interaktion Ideen generieren und neue Strukturen schaffen. Meine Reputation als
Wissenschaftler soll davon abhängig gemacht werden, ob es mir gelingt, viele Menschen zu
praxisrelevanter Reflexion und erfolgreichem Handeln anzuregen.
Fragen und Kommentare: jpm@ldl.de
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