Eintrag 9
Leiden, Denken, Innovieren
Immer schon war ich mit Bertolt Brecht der Ansicht, dass der Mensch
"ohne Not nicht denkt".
Wenn man die wichtigste Aufgabe des Forschers darin sieht, denkend
Problemlösungen zu erarbeiten, dann muss er sich selbst in die Notsituation begeben, um
dort den nötigen Leidensdruck zu erfahren, der ihn zum Denken zwingt. Für den
Fremdsprachendidaktiker bedeutet es, dass er unterrichtet. Auch in diesem Jahr stellte
mich meine 11.Klasse vor Probleme, die ich mit erheblichem Denkaufwand lösen musste.
Natürlich bietet diese Vorstellung von Wissenschaft eine gute
Rationalisierungsmöglichkeit. So kann ich die unzähligen Misserfolge, die ich auf der
Ebene der Institution erleide (13 erfolglose Bewerbungen auf Professuren, ausbleibende
Unterstützung innerhalb meiner Universität aufgrund meines untergeordneten Status
usw.) als Voraussetzung für meine Erfolge ausserhalb der Institution umdeuten: hätte ich
beispielsweise eine Professur, würde ich vielleicht bequemer werden und mich nicht mehr
mit dieser Intensität meiner Unterrichtsforschung widmen! Allerdings bewirkt diese
präkäre Lage, dass ich immer wieder um das Projekt bangen muss (dieses Bangen ist
ja wiederum der Antrieb zu Innovationen!). Gegenwärtig beispielsweise bedrückt mich
folgendes: Manfred Lirsch, der die LdL-Homepage aufgebaut hat und mir seit Jahren
kongenial zur Seite steht, ist aufgrund seiner Begabung ein sehr gefragter Mann. Ich muss
ständig befürchten, dass er einmal keine Zeit mehr für unsere Arbeit haben wird! Dabei
ist die LdL-Homepage für mich zum Forschungsinstrument Nr.1 geworden! Ohne LdL-Homepage
kann ich das Projekt nicht fortsetzen!
Mein Forschungsgegenstand
Die Phänomene, die durch die neuen Kommunikationsmittel ausgelöst
werden und die ich im Kontaktnetz und in meiner Klasse direkt beobachten kann, sind
faszinierend. Zum einen kann ich eine deutliche Enthierarchisierung festellen: wer
Interessantes zu sagen hat, wird wahrgenommen, unabhängig von seinem Alter und seinem
sozialen Status. Innerhalb unseres Netzes treten Schüler, Studenten, Lehrer allen
Altersklassen und Schultypen gleichberechtigt auf. Ferner wird die Kommunikation zwischen
den Beteiligten persönlicher, Konflikte werden leichter entschärft.
Beispielsweise hatte ich während einer Stunde in meiner Klasse einen Schüler durch
Bemerkungen verletzt - natürlich ohne es zu merken. Am selben Tag bekam ich von ihm eine
ausführliche Mail, in der er seine Enttäuschung zum Ausdruck brachte. Ich konnte sofort
antworten und unsere Beziehung wieder in Ordnung bringen (wie ich hoffe).
Wissenschaftlich ist das Beobachtungsfeld deswegen so interessant, weil
wir erst am Anfang einer offenen Entwicklung stehen, wir also eine Fülle von Hypothesen
aufstellen können und prüfen. Wir stehen deshalb erst am Anfang, weil bis jetzt nur eine
kleine Gruppe von Menschen mit der nötigen Technik ausgerüstet ist und weil die
technischen Möglichkeiten noch lange nicht ausgereizt sind. In den nächsten Jahren
werden ständig neue Strukturen geschaffen, mit neuen Auswirkungen. Bessere
Forschungsbedingungen kann ein Wissenschaftler nicht vorfinden! Diese Entwicklung im
Kontaktnetz und in meiner Klasse zu beobachten ist das, was mich heute stark beschäftigt
und wohl auch bis zu meiner Pensionierung beschäftigen wird (sofern ich für neue
auftretende Probleme immer wieder Lösungen finde)!