Reflexionen über meinen Unterricht in der 11. KlasseEintrag 13 Jean-Pol Martin In meinem letzten Tagebucheintrag (01.02.98) habe ich den Wunsch meiner Schüler geschildert, nicht vier Stränge (Menschenkonstrukt, Geschichte, Aktualität, Grammatik) parallel zu verfolgen, sondern sich zunächst mit meinem "Menschenbild" zu befassen, dann mit dem Überblick über die Geschichte Frankreichs, dann mit den Texten des Lehrbuches HORIZONS, usw. Diesen Vorschlag habe ich aufgegriffen und mir scheint, dass der Unterricht recht erfolgreich verläuft. Daher möchte ich dessen Fortgang detailliert beschreiben. 1. Das Menschenkonstrukt Grundsätzlich versuche ich - wie jeder Lehrer auch - "relevantes" Wissen zu vermitteln. Da in der 11.Klasse die Schüler in einem Alter sind, wo sie sich intensiv mit existentiellen Fragen befassen, eröffne ich die Möglichkeit, über den Menschen und seine Bedürfnisse im Unterricht nachzudenken. Als Einstieg zu einer anthropologischen Reflexion verteilte ich folgendes Blatt: Übersicht über die Funktionsweise des Menschen nach Martin (02.02.98)
Ein Bedürfnis, das alle anderen einschließt, ist das Kontrollbedürfnis.
Darüber hinaus lebt der Mensch im Spannungsverhältnis zwischen antinomischen
Tendenzen: Diese antinomischen Tendenzen halten den Menschen ständig in Bewegung, denn wenn er das eine hat, will er das andere und umgekehrt. Schließlich gibt es im Laufe der Geistesgeschichte zwei Interpretationsmuster im Hinblick auf eine Sinngebung des Lebens in der Welt: der Idealismus geht davon aus, dass es ausserhalb der reinen Materie ein geistiges Prinzip gibt, das die Welt ordnet, beispielsweise Gott, der Materialismus betrachtet die Welt als ausschliesslich von der Materie bestimmt.
Das Blatt wird ausführlich besprochen und die Schüler werden gebeten, an Beispielen aus dem Alltag zu testen, ob diese Kategorien wirklich Erklärungskraft besitzen. 2. Bedürfnistendenzen und politische Präferenzen Es wird die These vertreten, dass Parteien nach Bedürfnistendenzen geordnet werden können, So kommen "konservative" Parteien besonders dem Wunsch nach Ordnung, Sicherheit, Klarheit und Hierarchie entgegen, während "linke" Parteien eher Bedürfnisse nach Gleichheit und Solidarität bedienen, usw. Im Unterricht soll vorerst noch keine differenzierte Analyse vorgenommen werden, denn es gilt, die Kategorien überhaupt einzuführen und durch wiederholte Anwendung zu routinisieren. Als Hausaufgabe werden die Schüler gebeten, den Schwerpunkt ihrer eigenen Bedürfnistendenzen zu erforschen. Gleichzeitig sollen sie auf diesem Hintergrund über ihre Parteipräferenzen nachzudenken. Die meisten abgelieferten Texte waren ausführlich und interessant. Dazu ein Beispiel (bitte beachten Sie, dass die Texte als Hausaufgabe für den nächsten Tag und auf französisch verfasst wurden; hier darf nicht der Deutschaufsatz als Messlatte dienen!):
Meine persönliche Haltung in Bezug auf die antinomischen Tendenzen und die Politik (Markus.H.) Die Wahl zwischen Zwang und Freiheit stellt mich vor kein besonderes Dilemma: ich ziehe die Freiheit vor. Dafür gibt es mehrere Gründe, z.B. dass ich besser arbeiten kann, wenn ich frei bin. Das einzige Problem ist, dass ich faul werden kann, wenn kein Druck mich zum Arbeiten zwingt. Was die Opposition zwischen Vernunft und Gefühl angeht, so halte ich mich für rationaler als emotional, z.B. gelingt es mir, meine Hausaugaben zu erledigen, auch wenn ich keine Lust dazu habe. Natürlich kann ich mich auch emotional verhalten, wenn ich unbedingt etwas tun will; dann werden die Hausaufgaben hintangestellt. In Bezug auf den Gegensatz zwischen Hierarchie und Gleichheit, hier ziehe ich die Gleichheit vor. Ich denke z.B., dass die Lehrer uns mehr Rechte zugestehen sollten, damit wir unsere eigenen Entscheidungen treffen können. Nur so lernen wir, verantwortlich zu handeln. Aber manchmal ist es wichtig, dass jemand für uns bestimmt, denn es gelingt uns nicht immer, die richtige Entscheidung zu treffen. Zur Antinomie "Individuum und Gesellschaft": ich bin zwar in der Gesellschaft integriert, aber ich bin stolz, ein Individuum zu sein. Da ich nicht wie alle anderen sein möchte, mache ich nur das, was ich will, und ich lasse mich nicht von den anderen beeinflussen. Andererseits finde ich wichtig, in einer Gemeinschaft integriert zu sein, weil ich ohne Freunde nicht leben kann. Was die Opposition zwischen Klarheit und Unbestimmtheit angeht, so ist mir die Klarheit lieber, weil ich ohne Klarheit die Kontrolle verlieren würde. Ausserdem will ich immer genau wissen, was zu tun ist, weil ich keine Fehler machen möchte; um Fehler zu vermeiden brauche ich Klarheit. Wenn ich zwischen Einfachheit und Komplexität wählen muss, dann entscheide ich mich für die Komplexität: wenn etwas zu einfach für mich ist, habe ich keine Lust, es zu tun; ich gehe lieber schwierige Aufgaben an, die mir das Gefühl vermitteln, dass ich anspruchsvolle Herausforderungen bewältigen kann. Konkurrenz oder Zusammenarbeit? Für mich ist Zusammenarbeit wichtiger als Wettbewerb, weil ich der Meinung bin, dass man mehr erreicht, wenn man sich mit anderen zusammentut. In unserer Gesellschaft ist die Zusammenarbeit nicht so wichtig wie früher, weil jeder besser, reicher und höhergestellt als der andere sein will. Meiner Meinung nach ist das ein Fehler. Das ist der Grund, warum ich Zusammenarbeit der Konkurrenz vorziehe. Dasselbe gilt für die Opposition zwischen Egoismus und Altruismus. Da jeder besser als der andere sein will, hilft man den anderen immer seltener, im Gegenteil, man behindert sie in ihren Bestrebungen. Deshalb verliert die Kirche, die ja den Altruismus predigt, immer mehr Anhänger. Ich muss allerdings gestehen, dass ich mich manchmal sehr egoistisch verhalte. Wenn ich alle Punkte zusammenfasse, so stelle ich fest, dass ich eher ein Anhänger linker Politik bin, aber mit einer kleinen Tendenz nach rechts.
Besonders subtil finde ich folgende Überlegungen einer Schülerin über die Opposition zwischen Klarheit und Unbestimmtheit, bzw. Ordnung und Chaos: Julia W. (...) Ich möchte die Reflexion über Ordnung und Chaos mit Überlegungen über Klarheit und Unbestimmtheit verknüpfen: Klarheit und Unbestimmtheit betreffen den Kopf. Wenn man weiß, was man im Leben tun will, besitzt man Klarheit im Kopf. So denke ich, dass Chaos in Verbindung mit Klarheit besser ist als Ordnung in Verbindung mit Unbestimmtheit. Es ist nicht schlecht, wenn die Aussenwelt etwas chaotisch ist. Aber man muss den Überblick behalten, und den hat man, wenn man einen klar denkt. Leute, die immer darauf bedacht sind, dass überall Ordnung herrscht, wissen meist nicht, was sich in ihrem Kopf abspielt! Da in ihrem Kopf Unbestimmtheit herrscht, bestehen sie auf Ordnung in ihrer Wohnung, in ihrem Arbeitszimmer usw.(...)
3. Paradigmenwechsel Nach intensiven Diskussionen über die oben genannten Texte und einer gewissen Verinnerlichung der Analysekategorien, kann aufzgezeigt werden, dass der Verlauf der Geschichte sich nach den antinomischen Bedürfnisgruppen aufschlüsseln lässt. Der Übergang vom Mittelalter zur Renaissance ist als Paradigmenwechsel zu bezeichnen, ebenfalls der Übergang von der Renaissance zum Absolutismus, vom Absolutismus zur Aufklärung usw. Der Begriff "Paradigmenwechsel" wird an verschiedenen Sachverhalten exemplifiziert und es wird darauf hingewiesen, dass wir heute ebenfalls einen Paradigmenwechsel erleben. Als Hausaufgabe sollen die Schüler den Begriff "Paradigmenwechsel" an Hand von Beispielen zusammenfassend erläutern. Zu diesem Thema bekam ich eine Vielzahl interessanter Arbeiten, insbesondere diesen Text, der auf hohem Niveau die Brauchbarkeit des von mir vorgestellten Schemas kritisch reflektiert:
Der Begriff "Paradigmenwechsel" am Beispiel der Geschichte (Dominik S.) Wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet und die Vorstellungen, die Menschen über die Welt entwickelten, kann man einen Wechsel zwischen zwei Paradigmen beobachten: das eine Paradigma wird durch Freiheit geprägt und - wenn man Herrn Martins Schema anwendet - durch die Tendenz zu Werten wie dem Individualismus, der Komplexität usw., während das andere Paradigma entgegengesetzte Tendenzen aufweist. Wenn man wirklich die Geschichte in ein Schema einpressen will und sich auf starke Generalisierungen einlässt, dann ergibt es folgende ungleichmäßige Sinuskurve (z.B.): Diese Kurve zeigt deshalb keine absolute Regelmäßigkeit, weil es manchmal sehr plötzliche Wechsel gibt (Revolutionen) und manchmal ganz langsame Entwicklungen. Allerdings ist kritisch anzumerken, dass man den Ablauf der Geschichte nicht richtig fasst, wenn man dieses Schema verwendet. Ich sehe nämlich folgende Probleme:
Dieser Text war Anlass zu einer Diskussion, bei der folgende Standpunkte eingebracht wurden:
Auf dem Hintergrund der neuerworbenen und im Gespräch eingeübten Erkenntniskategorien kann nun der Überblick über die französische Geschichte fortgesetzt werden.Nachdem das Mittelalter, die Renaissance (16. Jh.) und der Absolutismus (17.Jh.) behandelt wurden, wurde auf Wunsch der Schüler eine kleine Wiederholung eingeschoben. Dazu wurde folgender Fragekatalog in Partnerarbeit bearbeitet.
Questions sur lhistoire Questions sur lhistoire (26.02.98) Répondez dans
lordre que vous voulez!
4. Vorbereitung der Frankreichreise in den Pfingstferien Gerade bin ich dabei,
eine 10-tägige Rundreise durch Frankreich in den Pfingstferien vorzubereiten, die uns zu
den Loire-Schlössern, La Rochelle, Bordeaux, Toulouse, Avignon und Montbéliard führen
wird. Hier wird der im Unterricht erarbeitete geschichtliche Hintergrund sicherlich sehr
nützlich sein.
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