Reflexionen über meinen Unterricht in der 12.Klasse
Eintrag 19
Jean-Pol Martin
09.01.1999
Meinen Leistungskurs Französisch (LK-12) führe ich nun seit dreieinhalb
Monaten. Im großen und ganzen entwickelt sich die Arbeit wie geplant, also wie ich sie in
meinem letzten Tagebucheintrag (04.10.98) angekündigt hatte.
Immer mehr rückt der Beitrag des Unterrichts für die Identitätsfindung der Schüler in den Mittelpunkt meines
Interesses. Die Zeit ist gekommen, diesen Aspekt systematisch anzugehen und die Ergebnisse
in einer Monographie zu veröffentlichen.
Das Projekt lässt sich folgendermaßen beschreiben:
1. Ausgangspunkt
Die Globalisierung der Wirtschaft
verändert die Lebensbedingungen
Die Nachkriegsgeneration konnte stabile Strukturen finden, die dem Einzelnen die
Herausbildung einer stabilen Identität erleichterten: klare Berufsprofile, klare
Familienstrukturen, Stabilität des Wohnortes. Die Globalisierung der Wirtschaft bringt
diese Rahmenbedingungen ins Wanken.
Die Schule muss dem Schüler helfen, eine stabile
Identität aufzubauen
Wenn es immer schwieriger wird, die eigene Identität im Beruf, in der Familie
oder im Wohnort zu verankern, dann gilt es, das Ich unabhängig von den Rahmenbedingungen
zu festigen. Meine These ist, dass der Mensch sein Ich langfristig über
"Produkte" konstruiert. Wer in der Schule stabiles und relevantes Wissen
aufgebaut hat, wird seine Identität auf dieses Wissen stützen können unabhängig von
seiner momentanen beruflichen, familiären oder geographischen Situation. Bausteine zu
ihrer Identitätsfestigung entwickeln meine Schüler aktiv in ihrer Freizeit: wer eine
Kindergruppe geleitet, in einer Band Musik gespielt, jahrelang im Faschingskomitee seiner
Stadt mitgearbeitet hat, wird - sofern diese Aktivitäten auch erfolgreich waren - diese
Erfahrungen als unverrückbares Fundament seiner Persönlichkeit erleben. Natürlich hat
die Schule immer schon wesentlich zum Aufbau eines stabilen Ichs beigetragen. Dennoch bin
ich der Meinung, dass hier noch ein großer Spielraum bleibt, der ausgenützt werden
sollte.
Konkrete Beispiele aus meinem
Unterricht
Wenn Schüler Projekte durchführen, beispielsweise im Rahmen einer Facharbeit, so
bekommen sie die Möglichkeit, ihre Ergebnisse didaktisch aufzubereiten und vor möglichst
großem Publikum vorzustellen. Man kann davon ausgehen, dass wenn eine Schülerin eine
Facharbeit über die Gärten von Versailles, über das Musée dOrsay oder über die
Stadt Lyon angefertigt hat, wenn sie die Ergebnisse didaktisiert und anschließend in
zahlreichen Veranstaltungen mit großem Erfolg vorstellt, dieses "Produkt" einen
festen Platz in ihrer Identität findet. In diesem Schuljahr muss zumindest ein Projekt
als stabiles Element in die Identität der Beteiligten eingegangen sein: Während der
Herbstferien ist eine Gruppe von 9 Schülerinnen und 3 Studenten zusammen mit mir nach
Montbéliard gefahren. Dort ist mein Freund Jacques Livchine Theaterdirektor. Da er gerade
dabei war, eine Straßenaktion gegen Halloween durchzuführen, wurde unsere Gruppe voll
integriert und unsere Leute durften - als Hexen verkleidet - die Stadt Montbéliard in
Aufruhr versetzen. Diese Aktion wurde gefilmt, es wurden von den Teilnehmern Interviews
durchgeführt und seit unserer Rückkehr in Deutschland konnten die verantwortlichen
Schülerinnen bereits zwei sehr erfolgreiche didaktisierte Vorträge über diese Aktion
halten.
2. Forschungsziel und Forschungsdesign
Forschungsziel ist es, am Beispiel
des Französischunterrichts aufzuzeigen, wie das Angebot der Schule für die
Identitätsbildung der Schüler optimiert werden kann.
Empirische Grundlage ist in erste
Linie der Unterricht, den ich gegenwärtig im Leistungskurs halte. Darüber hinaus sollen
Erhebungsverfahren entwickelt werden, mithilfe derer der Beitrag des
Französischunterrichts für die Identitätsbildung der Schüler in den Klassen, die ich
seit 1982 unterrichtet habe, ermittelt werden kann. Schließlich sollen Kollegen, seien es
Französischlehrer, oder Lehrer mit anderen Fächern, ermuntert werden, den Beitrag ihres
Unterrichts für die Identitätsfindung ihrer Schüler zu erforschen und mir ihre
Ergebnisse mitzuteilen.
Über den Einsatz von bekannten Erhebungsverfahren
hinaus (Fragebögen, Interviews, teilnehmende Beobachtung) wird versucht, die Schüler
selbst an der Forschung zu beteiligen. Dies geschieht, indem sie ermuntert werden, die
Forschungsberichte, die ich in Form von Tagebucheinträgen in der LdL-Homepage zugänglich
mache, zu lesen und zu kommentieren.
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