Erstpublikation in: französisch heute 3 (1993): 258-267. Der Aufsatz enthält im htm-Format keine Anmerkungen. Diese sind jedoch vollständig  in der Winword 6.0 / PDF


Günter Leitzgen

Lernen durch Lehren

Ein Erfahrungsbericht über die Einführung schülerbegleiteten Unterrichts im Fach Französisch in einer 11. Gymnasialklasse

1

Bin ich ein Fachmann? Ist der Lehrer ein Fachmann?

Fachleute werden nicht dafür bezahlt, daß sie Kenntnisse gespeichert haben, sondern dafür, daß sie sie anwenden, im Falle des Lehrers: sie an den Mann (die Frau, das Kind, den Heranwachsenden) bringen. Aber wenn die Kenntnisse des Ingenieurs, der Ärztin, des Friseurs von den Abnehmern nachgefragt werden, so scheinen im Falle des Lehrers die Abnehmer (schulpflichtige Schüler und Schülerinnen) nur ein mäßiges Interesse am Einsatz der Fachkompetenzen des Lehrers zu haben. Oder sollte - befürchtet haben wir es immer - doch die staatliche Kultusbürokratie (in meinem Falle die des Freistaats) der einzige Abnehmer sein?

Jedenfalls freut sich unsere Kundschaft unverhohlen, wenn wir einmal, noch besser: zwei-, dreimal, wegen Abwesenheit gehindert sind, ihr unsere Lernware anzudrehen. Die Frau Ärztin hat heute keine Sprechstunde? Der Herr Ingenieur ist erkrankt?

JUHU!

Unser schulisches Warensortiment wäre demnach eher der Angebots- als der Nachfragewirtschaft zuzuschlagen. Der Lehrer tummelt sich auf einem Markt, auf dem die Kunden mit großer Geduld, mit viel Einfühlungsvermögen und täglich von neuem dazu überredet werden müssen, dach seinem Produkt nachzufragt. Und eine alte Lehrertradition will, daß bereits der Zustand akkustischer Ereignislosigkeit als Indiz für heftige Nachfrage seitens des Schülers interpretiert wird. War das schon immer so? Und wenn ja, sit das nicht trotzdem schlimm genug? Und wird das alles nicht immer noch schlimmer? Der Lehrerstammtisch weiß auf diese so beleibten Fragen mit einer Fülle sehr beliebiger Antworten aufzuwarten. An der Unzufriedenheit mit der schilderten Lage ändern Frage und Antwort nichts. Aber auch die tiefsitzende Melancholie, die aus ihnen spricht, un der so erfahrungsgesättigte Fatalismus, der sie einschwärzt, wird manche Lehrer nicht daran hindern, die Lage trotz allem als nicht unveränderbar hinzunehmen.

Nicht unveränderbar: durch die doppelte Verneinung werden wir schon durchmüssen.

 

2

Als ich im Schuljahr 87 erstmals einen Leistungskurs Französisch übernahm, hatte ich erwartet, daß jetzt, jetzt endlich, „nachgefragt" würde. Ich wäre der Spezialist, und zumindest einen Teil meiner Kenntnisse würde ich auf Wunsch meiner Klientel ein- und anbringen können.

Irrtum!

Letztlich schlug ich auch jetzt mein Wissen gegen den (zwar wechselnden, einmal größeren, dann kleineren, aber insgesamt doch hinhaltenden) Widerstand der Empfänger los. Immerhin: mein Einsatz - sprich meine hartnäckige Bemühung um den möglichst hohen Erkenntnisumsatz - blieb nicht ohne Anerkennung. Bei der Abiturfeier wurde mir von den ehemaligen Kollegiaten eine Urkunde verliehen, in der mein (!) nie erlahmender Eifer bei der Vermittlung des Stoffes angemessen (d.h. mit angemessener Ironie) gewürdigt wurde.

 

3

Noch einmal einen Leistungskurs Französisch? Wenn, dann nur unter nicht unveränderten Bedingungen. Die Möglichkeit würde sich für mich ab Herbst 91 bieten.

Inzwischen hatte ich die Unterrichtsmethode Lernen durch Lehren, entwickelt von Jean-Pol Martin (Universität Eichstätt), kennengelernt. Ein Kollege an meiner Schule praktizierte sie seit ein paar Jahren in einer Französischklasse.

Ein Unterrichtsbesuch in Jean-Pol Martins Leistungskurs Französisch in Eichstätt war beeindruckend. Zwei Schüler leiteten die Korrektur einer Grammatikübung, präsentierten dann einen Auszug aus Voltaires Candide, stellten Fragen zum Text und erläuterten mit der Klasse anhand eines Fragenkatalogs Probleme der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Die sprachliche Kompetenz der Schüler war überraschend hoch, die Mitarbeit (verglichen mit mir bekannten Klassen) überdurchnittlich, und die Konzentration hielt bis zum Ende der beiden Stunden an. Nur an wenigen Stellen hatte der Lehrer eingegriffen; sein Eingreifen hatte allerdings dem Unterrichtsgespräch bisweilen eine entscheidende Wendung gegeben. U.a. hatte es den Bezug der behandelten Thematik zu unserer Zeit und zur konkreten Situation der Schüler hergestellt.

Jean-Pol Martins Klasse hatte Erfahrungen mit der Methode: Seit Beginn der 11. Jahrgangsstufe war sie damit vertraut gemacht worden, immer größere Unterrichtssequenzen selbst zu übernehmen und schließlich ganze Unterrichtsstunden zu gestalten. Die Unterrichtsplanung, Stoffverteilung und Art der Behandlung des Stoffes aber lagen in der Hand des Lehrers, der damit vom Hauptdarsteller zum Regisseur oder Organisator des Lernprozesses der Schüler wurde.

Was ich von Martins Promotionsarbeit Vom Aufbau didaktischer Teilkompetenzen beim Schüler las, schien mir überzeugend. Eigentlich hatte mich bereits der Titel überzeugt: Der große Zampano, der Lehrer, gibt Teile seines magischen Wissens, das nie eines gewesen war, an den Schüler ab.

Es sah so aus, als lasse sich mit Lernen durch Lehren (LdL) eine Grundkonstellation des Unterrichts zum Einsturz bringen: Großer Fachkenner kämpft unter Einsatz geballter pädagogischer Technik darum, den Nichtkenner mit tendenziell ähnlich großen Fachkenntnissen, wie er sie selbst hat, auszustatten.

Wenn ich richtitg verstanden hatte, lag der Dreh der neuen Methode darin, dem Schüler im Fremdpsrachenunterricht nicht einfach ein größeres Feld für sprachliche Aktivitäten zur Verfügung zu stellen, sondern ihm eine neue soziale Rolle zuzuweisen. Er sollte jeweils für eine Stunde oder einen Teil der Stunde den Lernprozeß der Klasse organisieren und in die Hand nehmen. Die (fremd)sprachliche Ausformung dieser Rolle wäre dann nur ein (allerdings wesentlicher) Teil der organisatorischen und psychologisch-pädagogischen Arbeit, die er zu leisten hätte. Seine sprachliche Aktivität bekäme - handlungstheoretisch gesehen - einen Sinn, der sich nicht unmittelbar und nicht nur aus den Erwartungen des Lehrers nach (fremd)sprachlicher Kompetenz ableiten ließe, sondern Ausfluß seiner neuen Rolle wäre.

Ich beschloß, einen Versuch zu wagen.

 

 

4

Tatort Lehrerzimmer.

„Ich mache das einfach so: Ich lasse einen Schüler an die Tafel kommen, ihn seine Hausaufgaben auf eine Folie schreiben ... Dreht euch mal alle um, sage ich ..."

„Ich mache das einfach so: ...": Die pädagogischen Experten beten ihr Rezept Nr.1 für träge, Nr.2 für laute, Nr.3 für pubertierende, Nr.4 für den Rest der Schüler herunter und bieten es als Pausenstärkung, als Knüller, als Geheimtip an. Zum Stimulieren, zum Motivieren, zum Provozieren, zum Dynamisieren. Nichts gegen solche häufig aus der Not, aber eben auch aus der Erfahrung geborene methodische Einfälle. Worüber ich jetzt nachzudenken hatte, waren allerdings nicht neue und noch elaborierter Strategien zur Verbesserung des Lernklimas via weitere Performierung der Lehrerrolle (die zu leisten wäre u.a. in Auseinandersetzung mit den elektronischen Medien, die dem Lehrer den Rang abzulaufen drohen), sondern war eine Struktur- und Organisationsform, die es dem Schüler durchgehend ermöglichen würde, das Unterrichtsgeschehen aktiver mitzugestalten.

Bei diesen Überlegungen spielte der Begriff der Habitualisierung eine ausschlaggebende Rolle. Den Schülern mußte die Möglichkeit gegeben werden,

  1. bestimmte Unterrichtsabläufe, die das Lehrbuch und/oder der Lehrer vorgab(en), als ritualisierte Abläufe zu erkennen und damit nachvollziehbar zu machen,

  2. durch die Erlernung einer begrenzten Anzahl sprachlicher Handlungsanweisungen so gut wie alle unterrichtlichen Situationen aktiv im gewünschten Sinne beeinflussen zu können,

  3. über einen längeren Zeitraum hinweg das eigene Lehr- und Lernverhalten beobachten, beschreiben, d.h. reflektierend begleiten zu können, um daraus Folgerungen für ihr weiteres Verhalten zu ziehen, die Korrektur dieses Verhaltens damit (zumindest teilweise) abzukoppeln von der bisher allein zuständigen Instanz, der Kritik des Lehrers.

 

5

Ich wollte meinen Versuch mit der Methode in einer 11. Jahrgangsstufe unternehmen (Französisch als 2. Fremdsprache, 5. Lernjahr, 20 Schüler), die ich bereits in der 10. Jahrgangsstufe unterrichtet hatte und aus der ich im Jahr danach einige Schülerinnen und Schüler in meinem Leistungskurs Französisch wiederzufinden annehmen konnte. „Versuch" konnte nun nicht heißen, ein paar mit der Methode zusammenhängende Ideen mal kurz durchzuprobieren und so auf ihre Verwendbarkeit zu prüfen, es konnte nur bedeuten, durch eine behutsame, kontinuierliche und konsequente Einführung der methodischen Grundelemente möglichst günstige Versuchsbedingungen zu schaffen, durch die der Methodenwechsel zu einer positiven Erfahrung für die Schüler würde.

Nachdem die Schüler mich bereits als Vertreter „aktiver" und „offener" Methoden kannten, brauchte ich ihnen zunächst nur mitzuteilen, daß ich vorhätte, die von Schülern gestalteten oder geleiteten Unterrichtssequenzen zahlenmäßig auszudehnen.

Ich erinnerte an eine schon im letzten Jahr verwendete Liste mit den wichtigsten sprachlichen Wendungen für das Unterrichtsgespräch und lieferte einige Stunden später ein Blatt nach, das die Abläufe bei der Einführung neuen Vokabulars erklärte sowie Ratschläge zu Steuerung der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden enthielt: u.a. Hinweise auf Blickkontakt, auf die Notwendigkeit von Kontrollfragen und Möglichkeiten der Fehlerkorrektur.

Ich kündigte an, daß in Zukunft die meisten Übungen, die das Buch (Echanges, Edition longue, Bd. 4) enthielt und die wir im Unterricht durchnehmen wollten, von je einem Schüler/einer Schülerin geleitet würden. Ich spielte ihnen an einer Übung beispielhaft vor, wie ich normalerweise eine solche Übung leitete, und forderte sie auf, sich sowohl die Abläufe wie das verwendete Vokabular einzuprägen. Dabei mußte verdeutlicht werden, daß auch derjenige, der sich in puncto grammatikalischer Richtigkeit bisweilen unsicher fühlte, die Leitung einer Übung übernehmen konnte, da ja jeweils die Klasse als Korrekturinstanz anzurufen war (und als letzte Instanz weiterhin der Lehrer zur Verfügung stand).

Daß in den folgenden Stunden kein Schüler sich weigerte (oder übermäßig zierte), die Leitung einer Übung vom Lehrerpult aus zu übernehmen, wertete ich als gutes Zeichen.

Wie nicht anders zu erwarten, hingen Qualität und Tempo der Übungsdurchnahme stark von der sprachlichen Kompetenz, aber wohl noch stärker von der Persönlichkeit des jeweiligen Lehrers ab.

Etwa drei Wochen danach erklärte ich, daß wir nun darangehen könnten, die Neudurchnahme von Vokabeln, grammatischen Strukturen und Lektionsinhalten jeweils einem Schülerpaar, das natürlich genügend Zeit zur Vorbereitung bekäme, anzuvertrauen.

Gleichzeitig führte ich eine anonyme schriftliche Befragung durch, mit der ich feststellen wollte, wie weit die Identifizierung mit dem Unterrichtsprojekt ging und wo vielleicht Widerstände zu erwarten waren. Außerdem sollte die Befragung einen dynamisierenden Verstärkereffekt haben und aus der (von mir erwarteten) weitgehend positiven Grundeinstellung eine aktiv unterstützende und selbstreflexive Haltung machen.

 

6

In einer der nächsten Stunden fand die Unterrichtsverteilung für die kommenden Wochen statt. Ich hatte den Stoff der zu bearbeitenden Lektion auf zehn Zweiergruppen verteilt und gab nun jeder Gruppe ein Karteikärtchen, auf dem, mehr oder weniger ausführlich (das hing vom Schwierigkeitsgrad ab), der Arbeitsauftrag vermerkt war. Die Gruppen begannen jetzt - wenn gewünscht, mit meiner Hilfe -, ihre Stunden vorzubereiten. Es erwies sich in der Folge, daß meist ein weiterer nachmittäglicher Treff der Gruppe nötig war, um mit der Vorbereitung zu Rande zu kommen.

Die Wiedergabe zweier Stundenprotokolle mag zunächst ein konkreteres Bild vom Ablauf solcher schülergeleiteten Stunden vermitteln.

Donnerstag, 22.11. (5. Stunde):

Die beiden Schülerinnen sind gut vorbereitet. Sie geben klar strukturierte Arbeitsabläufe vor, die sie jeweils ankündigen. Mir paßt nicht, daß an der Tafel neben der neuen Vokabel die deutsche Entsprechung in Form einer einfachen Wortgleichung auftaucht. (Schüler achten dann nicht mehr auf fremdsprachliche Erklärung.) Von den fünf gestellten Kontrollfragen zum Textinhalt lassen sich zwei durch einfaches Ablesen eines Kurzsatzes aus dem Lektionstext beantworten.

Le mitron = der Kronprinz steht jetzt an der Tafel. Ich weiß aus dem Vokabelverzeichnis, daß le mitron eigentlich der Bäckerjunge heißt - und nur im Lektionstext der Dauphin gemeint ist. Eingreifen? Nein. Thomas wendet sich aus der ersten Reihe halb zu mir, halb zur Klasse um: „Das heißt doch: Bäckerjunge." - „Vas-y. Pose ta question", sage ich. Er macht auf französisch weiter. Die Klasse weiß nicht so recht, was jetzt stimmen soll. Man schaut mich an. Ich zucke die Achseln. Sebastian rettet: „Le boulanger et la boulangère, c`est le roi et la reine parce qu`ils ont promis du pain. Alors, le mitron, c`est leur fils." So müßte es immer gehen, denke ich. Also nicht eingreifen.

Der letzte Lektionsteil wird von einer sehr schwachen Schülerin recht fehlerhaft gelesen. Obwohl die Schüler nach jedem Abschnit mit „Stop, il y a une faute" unterbrechen können, kommt nichts. „Il y a eu quelques fautes", sage ich am Schluß. Ein Teil der Fehler war offenbar erkannt worden, denn er wird jetzt bemerkt.

Ich merke, daß das Thema Grammatik (Passiv) von den beiden Vortragenden, wie schon in der Stunde vorher, gemieden wird. Dabei war ein kurzer Hinweis auf die Bildung des Passivs und das Sammeln der Belege von mir auf der Karteikarte vorgesehen gewesen. Es bleiben noch acht Minuten. Das ist zu wenig für eine erste Einführung mit entsprechendem Tafelanschrieb. Die beiden sind bereit, auf morgen zu verschieben. Mein Hintergedanke: Dann kommen sie nicht mit dem Sammeln der Textbelege davon und überlassen der Rest der Erklärung dann mir. Ich erinnere mich, beim Überfliegen der Fragebögen zu der neuen Methode irgendwo etwas gelesen zu haben von Angst vor der Erklärung neuer Grammatik.

Außerdem will ich unbedingt jetzt, nach der zweiten von Schülern gehaltene Stunde, eine kurze Reflexionsphase einlegen. Beim Abgang der Schüler von vorne zurück an ihre Plätze demonstrativer Applaus. Als ich wieder vorne stehe: plötzlich kaum noch Aufmerksamkeit für mich.

(Und im Fragebogen hatte jemand die Befürchtung geäußert, daß im schülergeleiteten Unterricht die Disziplin nachlassen würde!)

Machen wir die Diskussion auf französisch? Ja, sagt die Klasse. Ich will wissen, ob die Schüler mit den beiden Stunden zufrieden waren. Keine Äußerung. Also fange ich doch selbst an, sage, daß es neben all den positiven Aspekten ein paar Punkte gab, die m.E. zu verändern wären. Punkt 1: Die Wortgleichungen an der Tafel. Man hält mir entgegen, daß sie erst hingeschrieben wurden, nachdem die Erklärungen schon gegeben waren. Ich komme mir kleinlich vor. Warum traue ich dem einsetzenden Selbststeuerungsprozeß, auf den ich doch von Anfang an setzte, nicht zu, daß in ihm Stück für Stück auch dysfunktionales Vorgehen und Defizite der Methode wahrgenommen und von den Schülern zur Diskussion gestellt werden?

Also schneller Sprung aus der Kritikerkiste in die Rolle des konstruktiven Animateurs. „J`ai remarqué que vous avez cherché tout à l`heure certains expressions quand vous avez présenté le texte. Eh bien, ça, (ich zeichne ein Kästchen an die Tafel) ça s`appelle un encadré, et la faute dont tu n`as pas trouvé le nom, c`était la liaison que Christine a oubliée..."

 

Freitag, 23.11. (4. Stunde):

Kristina und Birgit erklären mit Hilfe eines Tafelanschriebs die Bildung des Passivs. Sie benutzen Farbkereide, um die Umwandlung des objet direct zum sujet zu veranschaulichen. (Birgit schreibt subject; bei dem b zögert sie, schaut mich an; „sans b", sage ich; das c problematisiert sie nicht; „et sans c", schicke ich hinterher.) Es geht - nach meiner Vorstellung - recht langsam vorwärts. Die Textbelege werden zwar gesammelt, aber es dauert, bis sie an der Tafel stehen. Die Klasse wird nicht unruhig. (In einem der Fragebögen hatte es zu den Vorteilen der neuen Methode geheißen: „Mehr Ruhe in der Klasse.") Sebastian fragt, da es von den beiden Vortragenden noch nicht ausgesprochen wurde: „Il faut faire l`accord?" Unschlüssigkeit in der Klasse, auch bei den Vortragenden - zunächst allerdings wegen des Begriffs accord, der wohl Sebastian, aber nicht dem Rest der Klasse geläufig ist. Ich halte mich raus. Es wird schließlich von der klasse geklärt, was accord ist; dann wird zögernd die Hypothese formuliert daß es beim Passiv einen accord mit dem Subjekt gibt. Ich stimme zu und verweise auf die allgemeine Regel, die bei être gilt. (Mein Hinweis bleibt kurz: nur wenige Wörter.)

Die an der Tafel stehenden Textbelege werden nun von der Klasse ins Aktiv gesetzt. Keine größeren Schwierigkeiten.

Fazit: Es hat lange gedauert, bis die Grundstrukturen des Passivs beschrieben waren. Zeitverlust? (In einem Fragebogen hat es geheißen: „Es geht immer ziemlich viel Zeit verloren, da nicht jeder Schüler fähig ist, aber mit der Zeit [Übung] könnte es besser werden.") Immerhin gehe ich mal von der lerntheoretischen Hypothese aus, daß in Zukunft zumindest der Begriff accord mit der Struktur Passiv stark verknüpft bleibt, da der Prozeß des Auffindens dieser Beziehung von der Klasse selbst organisiert wurde.

Ich fasse charakteristische Eindrücke, Ergebnisse und Probleme aus den von Schülern geleiteten Stunden zusammen:

 

  • Die Konzentration ist eher größer als beim Frontalunterricht des Lehrers.

  • Die Sprechtätigkeit der Schüler nimmt zu. Sie verläuft nicht mehr nur zwischen Lehrenden und Lernenden, vielmehr setzt eine sprachliche Interaktion auch zwischen den Lernenden ein. (Sie wird begünstigt durch eine Sitzordnung im Kreis oder in Hufeisenform, was in unserem Falle nicht zu verwirklichen war.)

  • Gleichzeitig nimmt die Zahl der sprachlich nicht korrekten Sprachakte zu.

  • Selbst die jeweiligen Leiter machen viele Aussprachefehler bei der Vorstellung der neuen Wörter.

  • Die Lautstärke beim Lehrvortrag und beim Lesen der Texte läßt zu wünschen übrig.

  • Es gibt Probleme der Synchronisation zwischen den beiden Vortragenden.

  • Grammatische Erklärungen werden gescheut.

  • Obwohl die Worterklärungen der Schüler meist kürzer ausfallen als beim herkömmlichen Lehrervortrag, bringt mich die Mehtode in Zeitverzug.

7

Und ich, der Lehrer, in diesem Unterricht? Meine neue Rolle? Meine veränderten Sehweisen?

Ich war zunächst einmal erstaunt, was ich alles wahrnahm aus meiner zweiten Reihe heruas, erstaunt also auch, was mir alles vorher entgangen war. Die Stärken und Schwächen der Schüler, das, was man bisweilen als „Leistungsprofil" bezeichnet, traten klarer konturiert hervor. Am Ende der Stunde hätte ich bisweilen jedem der beiden Vortragenden ein sprachliches Trainingsprogramm auf den Leib schneidern können, so deutlich zeigten sich Kompetenzen, aber auch Defizite.

Und ich erfuhr sehr viel über mich und meinen Unterricht, über mein pädagogisches „Leistungsprofil": Daß die übliche Lehrerlautstärke (jedenfalls die meine) häufig nur als Signal, um Aufmerksamkeit zu erzwingen, eingesetzt wird; daß Lehre sich erschreckend oft wiederholen, während Schüler dem Prinzip der Variation weit weniger huldigen; daß methodisch-didaktische Perfektion, wie sie der Lehrer anstrebt, nicht unbedingt der einzige Weg zum Lernerfolg ist, bisweilen sogar - eben aufgrund der wasserdichten Unangreifbarkeit - der Passsivität des Lernenden Vorschub leistet.

Die Frage, die sich mir am häufigsten in meiner zweiten Reihe stellte, lautete: Soll ich eingreifen? Und wenn ja, in welchem Augenblick? Und Schließlich: Auf welche Weise soll ich eingreifen? Ich machte es mir sehr bald zur Regel, möglichst selten - und wenn, dann möglichst spät und nur kurz einzugreifen. (Eine selbstgesetzte Regel, gegen die ich in manchen Stunden arg verstieß.) Eingreifen dann, wenn gravierende Fehler richtigzustellen waren. Möglichst nicht aber eingreifen, wenn ein Problem auftauchte. Fast jede unerwartet auftretende Frage, fast jede Durchbrechung des routinemäßigen Ablaufs wirkt sich letztlich produktiv aus, mobilisiert Lösungsstrategien, fördert sprachliches Handeln. Der Begriff Störung bekommt damit einen neuen Stellenwert. Störungen sind nicht mehr störend, sondern erwünscht.

Der besorgte Kollege versäumt an dieser Stelle nicht, uns die Gretchenfrage zu stellen: Wie hast du`s mit der Verbesserung der vom Schüler gemachten Fehler? Ist es nicht höchst problematisch, wenn du ihn seine Fehler machen läßt, und dann bleibt nicht nur er, sondern auch der Rest der Klasse auf diesen Fehlern sitzen?

Ich tue, um diese Frage zu beantworten, einen methodischen Schritt nach hinten. Im herkömmlichen Fremdsprachenunterricht, in dem der Schüler meist nur kurze Äußerungen tätigt, wird er belohnt, wenn er die vom System Schule und von der Person des Lehrers empfohlene Fehlervermeidungsstrategie konsequent anwendet. Je kürzer seine Äußerung, um so weniger Fehler werden ihm anzukreiden sein. Was nicht heißt, daß er in einer Situation, die echtes Sprachhandeln erfordert (z.B. im Ausland), keine Fehler macht.

Unsere Methode verlangt vom Schüler wesentlich vielfältigere sprachliche Strategien als der traditionelle Unterricht. Dabei wird er in verstärktem Maße seine Fehler machen. Erst wenn er sie gemacht hat, werden seine Sprechpartner, Schüler und Lehrer, sie überhaupt wahrnehmen und ihn darauf hinweisen können. Das mag von seiten des Lehrers z.B. am Ende der Stunde erfolgen in Form einer Zusammenfassung, die sich auf den/die Hauptfehler beschränkt. Nicht die besten Erfahrungen, muß ich allerdings hinzufügen, habe ich mit diesen Pausengesprächen gemacht. Es scheint mir inzwischen sinnvoller, den Hauptteil der Fehlerkorrektur über die Durchsicht der schriftlichen Hausaufgaben abzuwickeln, die damit für den Schüler größere Bedeutung bekommt.

In Ansätzen zeigte sich nun aber, daß die Schüler sich selbst während des Unterrichts zu korrigieren begannen. Alle Ansätze in diese Richtung habe ich ermutigt. Beginnt ein Schüler, das Sprachverhalten des Mitschülers präzise zu beobachten und zu beschreiben, so dürfte - längerfristig - das auch zu einer verschärften sprachlichen Selbstbeobachtung führen. Schließlich sollte man sich vor Augen halten, daß angesichts der größeren Fülle an Sprachmaterial, das während des Unterrichts umgewälzt wird, die Zahl der gemachten Fehler an Bedeutung verliert. Die „gelassenere" Haltung während des schülergeleiteten Unterrichts, die ich inzwischen an mir selbst beobachtete, dürfte sich teilweise auch daraus ergeben haben, daß die von Schülern gehaltenen Stunden vereinbarungsgemäß von jeder Benotung frei blieben.

 

8

Es ist sehr schwer, sich nach nur einem Jahr der Frage der Ergebnisse zu stellen. Zumindest im Bereich der rein sprachlichen Leistungsbilanz werde ich um die doppelte Verneinung zum zweiten Male nicht herunterkommen: Nach meinem Eindruck hat die Einführung der Methode LdL diese Bilanz nicht verschlechtert. Ob allerdings im verflossenen Jahr der Zuwachs an fremdsprachlicher Kompetenz größer war als der im konventionellen Unterricht erzielte, darüber wage ich keine Aussage zu machen.

Deutlich aber stieg die Motivation für das Fach Französisch. Das belegen die Ergebnisse der Umfrage, der im Unterricht gezeigte Einsatz wie die große Zahl derer, die sich am Ende der 11.Jgst. für einen Leistungskurs oder Grundkurs Französisch entschieden. (Auch das Zustandekommen eines Grundkurses [den es seit Jahren an unserer Schule nicht mehr gegeben hatte] verdankt sich dem Einsatz eines engagierten Schülers der Klasse.)

In einem (nicht von mir initiierten) Deutschaufsatz zum Thema „Unlust und Desinteresse am Unterricht der Mittel- und Oberstufe" wurde von zwei Schülern der Klasse die Methode LdL als ein Ausweg aus der Schulmisere beschrieben: Stärkere Beteiligung und größeres Interesse am Unterricht seien als positive Ergebnisse festzustellen. Schließlich gab es so etwas wie ein Überspringen von gewandelten Einstellungen auch auf meinen „normalen" Unterricht, der immerhin weiterhin mehr als die Hälfte der Unterrichtszeiten ausmachte. Schüler waren leichter zu längeren Äußerungen zu bewegen, setzten häufiger dazu an, die pädagogische Einbahnstraße Lehrer/Schüler zu verlassen und einem Mitschüler etwas (in der Fremdsprache) auseinanderzusetzen.

 

9

Wie werde ich weitermachen?

Ich werde die Methode LdL im Leistungskurs nicht „durchsetzen". Ich werde es nicht darauf anlegen, nun jede Stunde unbedingt von einem Schüler halten zu lassen. Ich werde vielmehr, wie im vergangenen Jahr, die Schüler allmählich mit der Methode vertraut machen - und Widerstände und Einwände nicht nur registrieren, sondern ernst nehmen. Daß ich die Kollegiaten mit ganz anderen Arbeits- und Darbietungsformen, als sie in der 11.Jgst. üblich waren, werde bekanntmachen müssen, ist ein neues Kapitel, das ich hier nicht behandeln werde.

Eines allerdings scheint mir auch deutlich: die Methode LdL läßt sich nicht einfach nur nebenbei und so hin und wieder einsetzen, wenn einen die Lust überkommt. Nur wenn sie in relativ regelmäßigen Abständen verwendet wird, kann sie positive Wirkungen zeitigen:

  • Die Hemmschwelle angesichts der Unterrichtsabläufe und des dabei eingesetzten Vokabulars muß gewährleistet sein.

  • Der Schüler darf nicht den Eindruck bekommen, daß evtl. nur er (oder ein Teil der Klasse) zum schülergeleiteten Unterricht herangezogen wird; vielmehr soll er wissen, daß mit großer Regelmäßigkeit und ohne Ansehen der Personen dabei alle drankommen.

  • Der vom Schüler präsentierte Stoff muß der „normale" Unterrichtsstoff sein; nur so werden alle Beteiligten diesen Unterricht auch ernst nehmen.

Das, was ich einmal Versuch mit der neuen Methode nannte, darf nicht zum Experiment ausarten. Es muß vielmehr in allen Phasen getragen und abgestützt sein von kontinuierlicher Beobachtung, Selbstreflexion, einem gesunden Zutrauen zur Eigendynamik sich entdeckender und damit entwickelnder Autonomie des Schülers und schließlich vom Respekt gegenüber seiner Person und seiner Leistung.

 

Anhang

Nov. 90

BEFRAGUNG der Klasse 11b

A. Unterricht (allgemein)

B. Methodik des Französischunterrichts

 

A] Unterricht (allgemein)

I. Wie siehst Du Deine Befindlichkeit an der Schule?

        Fühle mich (einigermaßen) wohl    O 8

        Angenehmes und Unangenehmes etwa gleich    O 11

        Fühle mich verhältnismäßig unwohl      O 1

II. Liegt das eher

        an Dir?    O 11

        an den Lehrern?    O 8

        am „System Schule"?    O 8

III. Erwartest und hoffst Du, daß im Verlauf Deiner Anwesenheit an der Schule

        - Du mehr Möglichkeiten der Selbstverwirklichung findest    O 13

        - daß alles so bleibt    O 4

        - daß es eher schlechter wird    O 2

IV. Denkst Du, daß eine größere Mitbestimmung auch bei der Unterrichtsgestaltung und daß wesentlich ausgedehntere Schüleraktivitäten im Unterricht in unserem Schulsystem möglich und sinnvoll wären?

        Ja    O 15

        Nein    O 4

 

B] Zum Französischunterricht

  

V. Nachdem Du bereits mehrmals von Schülern geleitete Unterrichtssequenzen erlebt hast, stehst Du dieser Art von Unterricht

      eher positiv    O 13

      gleichgültig    O 1

      eher ablehnend    O 6 gegenüber?

 

VI. Erwartest Du Dir bei einer Ausweitung der Schüleraktivitäten im F-Unterricht

      eher positive Ergebnisse    O 17

      eher netative Ergebnisse    O 3

 

VII. In welcher hinsicht erwartest Du Dir am ehesten Veränderungen?

      - Unterricht wird spannender, abwechslungsreicher (weniger einschläfernd)    O 2

      - entkrampfter (da weniger lehrerbezogen)    O 16

      - bringt größeren Lernerfolg    O 15

 

VIII. Entspricht die Methode Deiner Vorstellung von „Ernst-genommen-Werden"?

      Ja    O 15

      Nein    O 4

 

IX. Glaubst Du, daß die Methode außer der rein fachlichen auch noch andere Wirkungen hat/haben könnte? (Anderes Verhältnis zu Mitschülern, anderes Verhältnis zu schulischen Inhalten ........................)

Welche?

................................................................................................................................

 

X. Zusätzliche Bemerkungen zu den 9 Punkten oder weitere Meinungsäußerungen zum Thema: