Didaktischer Brief I
(Jean-Pol Martin, 25.09.1985 )


In diesem Brief möchte ich schildern, wie ich im Anfangsunterricht in den ersten Monaten vorgehe (1). Da in dieser Phase die Text- und Grammatikpräsentationen nicht von den Schülern geleistet werden (2), konzentriere ich mich bei meinen Ausführungen auf den Übungskomplex. In meinem zweiten Brief werde ich mich schwerpunktmäßig mit der Textpräsentation durch die Schüler befassen und in meinem dritten mit der Grammatikdarbietung.

Als Beispiel zu meinen Erläuterungen könnte ich jede beliebige Anfangslektion aus einem gängigen Lehrwerk herausgreifen; da Cours de base gerade auf meinem Tisch liegt (3), wähle ich dieses Buch, und zwar die Lektion 2.

1. Aufbau der Stunde

Die Art und Weise, wie ich meine Stunden mit dem Lehrwerk strukturiere, ist absolut traditionell: ich stelle zunächst die neuen Wörter und den neuen Text vor, lasse den Text dann mit verteilten Rollen lesen, unter Umständen auch spielen, vielleicht wird im Anschluß die Grammatik erläutert und schließlich (oder auch zwischendurch) werden die Übungen durchgenommen.

Die Originalität meines Modells liegt also nicht auf der Ebene des Stundenaufbaus, sondern auf der Ebene der Sozialformen, der Art und Weise, wie der Klassenraumdiskurs abläuft, der inhaltlichen Sprachsystemzentriertheit und der Betonung von sprachproduktivem Schülerverhalten.

2. Lesen des Textes mit verteilten Rollen

Nachdem ich den Text und den neuen Wortschatz präsentiert habe, bitte ich einen Schüler, das Lesen des Textes mit verteilten Rollen im Plenum anzuleiten.

Ich sage ihm: "René, dirige la lecture du texte, s'il te plaît."

Zum Anleiten braucht der Schüler folgende Wendungen:

  • Michel, tu es le narrateur.
    Angela, tu es Mme Leroc.
    Michel, commence (à lire), s'il te plaît .
    Angela et Michel, commencez .
    C'est bien, merci. Continue/continuez.
    C'est toi, le narrateur

Während des Lesens, passen die anderen Schüler auf und korrigieren die Aussprachefehler. Damit sie intervenieren können, müssen sie folgende Ausdrücke beherrschen:

  • Stop, il y a une faute (de prononciation)
    Attention
    Plus fort.
    Répétez/répète, s'il te plaît

Generell gilt für den Klassenraumdiskurs, daß die Schüler jederzeit stoffbezogen intervenieren dürfen, allerdings auf Französisch. Da ihnen die Begriffe fehlen, müssen sie sich an den Lehrer wenden und fragen:

  • Comment dit-on (en français) "................"?

Wenn die Schüler dagegen eine Äußerung auf französisch nicht verstehen, sollen sie sich an den Lehrer wenden und fragen:

  • Que veut dire (en allemand) ".............."?

Auf diese Weise könne Sie ziemlich schnell (fast von Anfang an) den größten Teil des Unterrichts auf Französisch bestreiten. Und bitte: machen Sie sich nicht zuviel Sorge wegen eines eventuellen Zeitverlustes. Was Sie hier vermeintlich verlieren, machen Sie dadurch wett, daß Sie weniger zu wiederholen brauchen und daß die Motivation stets sehr hoch bleibt! Also, auch wenn Ihnen alles sehr langsam vorkommt und Sie den Eindruck haben, das zähe Vorgehen würde die Schüler langweilen, das Gefühl trügt.

Intervenieren Sie bitte nicht zu oft, und nicht zu schnell! Das würde die Schüler entmutigen. Die Schüler brauchen Zeit zum Nachdenken, sie brauchen auch Zeit, um sich vom traditionellen Schema zu lösen und sich an die neuen Aktivitäten zu gewöhnen.

3. Lesen des Textes in Partnerarbeit

Nachdem der Text im Plenum (vielleicht mehrmals) vorgelesen wurde, können Sie die Schüler ihn noch einmal in Partnerarbeit durchnehmen lassen, so daß wirklich jeder den Text mindestens einmal ganz vorgelesen hat. Die Frage der Partnerarbeit ist ein Problem der Güterabwägung: einerseits habe ich den Vorteil, daß die Schüler alle aktiv sind, was aus meiner Sicht sehr wichtig ist, andererseits kann es sein, daß Fehler gemacht werden, die niemand korrigiert und die sich festigen.

Ich meine, man sollte weniger Angst vor Fehlern als vor Sprachlosigkeit haben. Grundsätzlich ist es günstig, wenn zumindest am Anfang Partnerarbeit für Übungsformen eingesetzt wird, bei denen nicht allzuviel falsch gemacht werden kann. Also z.B. auch zum Übersetzen von einfachen Texten, deren problematischen Strukturen vorher abgeklärt worden sind.

4. Der Übungsteil

Auch die Durchführung der Übungen sollte von Anfang an von einem Schüler geleitet werden.

Dazu braucht er folgende Redewendungen:

  • Michel et Frank, commencez l'exercice page 9, numéro 1, s'il vous plaît
    Merci, c'est bien, continuez Anne et Karin...
    C'est fini
    Il y a une faute, corrige Beate, s'il te plaît

Damit die Mitschüler auf Fehler hinweisen können (sie sollen nicht gleich die Lösung angeben), müssen sie sagen können:

  • Il y a une faute, Brigitte est du féminin.
    Daniel est du masculin.

Später sollte man einführen, damit die Schüler sich gegenseitig präzise Fragen stellen können: comment écris-tu ".........." und die Buchstaben des Alphabets auf Französisch, damit die Frage beantwortet werden kann.

Nachdem einige Übungen auf diese Weise im Plenum gemacht worden sind, können die restlichen in Partnerarbeit erledigt werden, aber Achtung: siehe oben die Hinweise zur Partnerarbeit.

5. Wortschatzlernen

Es schadet nicht, wenn Wörter einfach mit Hilfe des Vokabelheftes gepaukt werden. Am besten geht es, wenn die Schüler in der Schule sich die Wörter in Partnerarbeit gegenseitig abfragen. Das ist für sie ökonomischer und macht mehr Spaß als zu Hause. Vielleicht kann man auch empfehlen, von Anfang an zu versuchen, die Partnerarbeit auf Französisch zu gestalten. Wenn der Lehrer immer wieder dazu anregt, dann werden die Schüler sich daran gewöhnen, bei Gruppenarbeiten miteinander französisch zu reden.

6. Grammatiklernen

Das Auswendiglernen von Paradigmen, hauptsächlich also von Konjugationen, macht in Partnerarbeit mehr Spaß als zu Hause. Dadurch wird letztlich effektiver gelernt, und es wird Zeit gewonnen für anspruchsvollere Aufgaben.

7. Das Diktat als Übung

Jeder Verlag gibt eine auf die Lehrwerktexte abgestimmte Diktatsammlung heraus.

Ich gebe meine Sammlung einem Schüler und er diktiert den von mir gewählten Text. Zum Diktieren muß er über die folgenden Ausdrücke verfügen:

  • Je lis la dictée.
    C'est le titre.
    Virgule, point, point-virgule, ouvrez les guillemets, fermez les guillemets .

Die anderen Schüler brauchen folgende Wendungen:

  • Plus fort
    recommence, répète
    moins vite

Bei der Korrektur des Diktats wird benötigt:

  • pousse-toi, s'il te plaît
    la première/deuxième/troisième etc. ligne

und das französische Alphabet, damit die Schüler die Fehler an der Tafel beschreiben können

8. Abfragen (4)

Am Anfang einer Stunde hole ich einen Schüler an die Tafel, damit er von seinen Mitschülern ausgefragt wird. Für seine Leistung gebe ich ihm aber KEINE Note. Auf diese Weise gewöhnen sich die Schüler daran, relativ harten Prüfsituationen zu begegnen, ohne die zusätzliche, durch die Benotung bewirkte Angst bewältigen zu müssen. Das Ausfragen hat also nicht die Benotung zum Zweck, sondern das Kontrollieren des Wissens. Dadurch können eventuell festgestellte Lücken geschlossen werden. Dadurch haben auch die Mitschüler keine Scheu, schwere Fragen zu stellen, weil sie wissen, daß es keine negativen Konsequenzen haben kann. In diesem Sinne ist das Ausfragen ein wichtiges Element zur Initiierung von Lernprozessen.

Zur Notengebung halte ich Extemporalien, oder ich frage einen Schüler selbst aus.

9. Noch einmal zur Unterrichtsführung

Am Anfang ist das Schwierigste herauszubekommen, wann man sich zurückhalten muß, und wann man intervenieren sollte. Die Schüler müssen spüren, daß einem nichts entgeht, insofern ist ein unausgesprochener, vom Lehrer ausgehender Druck schon sehr wichtig. Es ist besonders darauf zu achten, daß die Freiheit der Sozialformen nicht zu einem laxeren Arbeitsstil ausartet, sondern daß gerade die Freiheit zu einer unbeschwerten, intensiven Zuwendung zum Stoff führt. Insofern würde ich das in meinem Unterricht herrschende Klima folgendermaßen definieren: Soweit intensiv gelernt wird, ist alles erlaubt, aber für Abweichungen von den gemeinsam anvisierten Zielen ist kein Raum. Auf dieser Grundlage habe ich keine Disziplin- und Motivationsprobleme, die meinen Ansatz diskreditieren könnten.

10. Zeit zum Nachdenken, Zeit zum Sprechen

Bitte achten Sie darauf, daß jeder wirklich Zeit zum Nachdenken hat, daß nicht gedrängt wird, wenn eine Antwort nicht sofort kommt, daß kein Schüler unterbrochen oder übersehen wird! Das ist sehr wichtig! Nur so ist die Motivation aller auf Dauer zu erhalten. Natürlich darf das Tempo nicht zu stark verlangsamt werden. Das ist eine Frage des Fingerspitzengefühls und des Konsenses mit den Schülern.

11. Ausblick (Textpräsentation durch Schüler)

Bereits beim Text A der Lektion 3 könnte man behutsam versuchen, diesen Text mit Hilfe einer Folie oder Wandtafel von zwei Schülern vorstellen zu lassen. Allerdings muß man vorher die Aussprache mit ihnen genau geübt haben (5). Zur Präsentation durch Schüler eignen sich die Texte B und C der Lektion 2 weniger.

Ich meine sowieso, daß die Textpräsentation durch Schüler am Anfang nur gelegentlich und bei besonders gut geeigneten Texten stattfinden sollte. Erst ab Lektion 11 habe ich fast alle Texte von Schülern präsentieren lassen. Mit der Grammatikpräsentation durch die Schüler fing ich erst im zweiten Lernjahr an (6).

Schlußwort

Ich würde mich freuen, wenn

  1. diese Blätter Ihnen helfen, und Sie und Ihre Schüler soviel Spaß am Unterricht haben, wie wir, seitdem wir einen solchen praktizieren,
  2. Sie diese Blätter an Interessierte weitergeben, damit der Ansatz sich nicht nur theoretisch sondern auch praktisch verbreitet,
  3. Sie mir feed-back spenden und über Ihre Erfahrungen berich ten, eventuell auch die Anschriften interessierter Kollegen mitteilen.

 

 

ANHANG:    EXPRESSIONS UTILES EN CLASSE

Lecture du texte Dictée
René, dirige la lecture, s'il te plaît Je lis la dictée
C'est le titre
Michel, tu es le narrateur Virgule, point, point-virgule,
Angela, tu es Madame Leroc ouvrez / fermez les guillemets
Michel, commence à lire, s'il te plaît Moins vite
Angela et Michel, commencez Va au tableau
C'est bien, merci, continue/continuez Pousse-toi, s'il te plaît
C'est toi, c'est moi La dernière phrase
Stop/attention, il y a une faute.
        une faute de prononciation.
Avant/après le point
Plus fort La ligne avant/après
répète  
Comment dit-on (en français)? Autres expressions utiles
Que veut dire (en allemand)? Aide-moi, s'il te plaît, aide Michel
Exercices je ne sais pas
Commencez l'exercice page 9 numéro 1, s'il vous plaît  
C'est fini (Dieses Blatt soll nicht auswendig gelernt sondern ad hoc benutzt werden)
Corrige la faute  
masculin/féminin/singulier/pluriel/première personne, deuxième personne  
Comment écris-tu ... ?  

       


  Endnote

  1. Zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang der Artikel von Roland Graef: "Lernen durch Lehren im Anfangsunterricht" (Graef 1990)
  2. Heute, da ich seit nun 10 Jahren durchgängig nach LdL arbeite, lasse ich von der ersten Stunde an die Schüler sämtliche Stoffteile (Wortschatz, Text, Grammatik) vorstellen. Aber dazu ist schon viel LdL-Routine beim Lehrer notwendig.
  3. Siehe Vorwort.
  4. Von diesem Verfahren bin ich heute abgekommen. Ich gehe anders vor, vermute aber, daß Kollegen, die ein volles Lehrdeputat haben, meine Technik aus Zeitmangel nicht anwenden können: Am Anfang fast jeder Stunde halte ich einen kurzen Test (eine Halbe DIN A4 Seite) mit Fragen zum Wortschatz oder zur Grammatik (Wortgleichungen oder Sätze zum Übersetzen). Diese Tests werden eingesammelt und von mir zu Hause korrigiert, aber nicht benotet. Ich schreibe nur eine Bewertung (Très bien! - Horrible! -Pas mal) am Ende des Blattes. Der Test dauert fünf bis zehn Minuten. Dieses Verfahren hat den Vorteil, daß alle Schüler zum Stoff abgefragt werden, und ich die Kontrolle über die Leistungen behalte, ohne daß bereits am Anfang Zeit für die Befragung einzelner Schüler beansprucht wird. Außerdem wird vermieden, daß die Stimmung im Unterricht von der Notengebung geprägt wird. Zur Notenbildung halte ich weiterhin Extemporalien, oder ich frage einen Schüler ab, aber dies recht selten!
  5. Ich bin dazu übergegangen, die Schüler zu bitten, die Kassetten zu den Lehrbuchtexten zu kaufen. Mit deren Hilfe können sie vor der Vorstellung eines Textes die Aussprache zu Hause üben. Wenn bei der Präsentation noch Fehler auftreten, ist es kein Problem, diese sofort zu berichtigen.
  6. Heute lasse ich meine Schüler von der ersten Unterrichtsstunde an den gesamten Stoff vorstellen und einüben.