Didaktischer Brief III Wieder ist seit dem Abfassen meines letzten didaktischen Briefes mehr als ein Jahr vergangen. In dieser Zeit konnte ich eine Art Informationsnetz aufbauen, an das gegenwärtig etwa 140 Kollegen angeschlossen sind. Ferner hat sich eine Kerngruppe herausgebildet, die in enger Zusammenarbeit die Methode systematisch und langfristig erproben möchte. Dabei wird der Ansatz nicht nur in verschiedenen Fremdsprachen, sondern auch in Geschichte und Mathematik getestet. Bezogen auf meine eigene Arbeit im Französischunterricht und im Rückblick auf bald sieben Jahre Erfahrung mit dieser Methode stelle ich fest, daß eine weitgehende Übernahme von Lehrfunktionen durch Schüler in den Klassen 7 bis 11 möglich ist und sich sehr positiv auf Lernleistungen und Lernklima auswirkt. In den beiden ersten didaktischen Briefen habe ich den Anfangsunterricht erörtert. Im folgenden beschreibe ich die Techniken, die ich in den Klassen 9 bis 11 anwende. I. Die Klassen 9 und 10 1. Zur Situation Traditionell wird ein Motivationseinbruch in den Klassen 9 und 10 beklagt. Diese Erscheinung wird auf den entwicklungsbedingten Rückgang der Spontaneität und Sprechbereitschaft in dieser Altersstufe zurückgeführt. Eine solche Interpretation ist sicherlich zutreffend, denn mit dem Einsetzen selbstreflexiver und selbstkritischer Haltungen in der Pubertät verstärkt sich die Angst vor "Blamagen". Dennoch konnte ich in meinem Unterricht keinen Motivationsverlust beobachten und glaube, daß es an der Methode liegt: die Aufgabe, den Stoff selbständig aufzuarbeiten und den Mitschülern zu vermitteln, scheint den Fähigkeiten und Interessen von 13- bis 16-jährigen zu entsprechen. Die eigentliche Schwierigkeit, mit der ich zu kämpfen hatte, war die Verknappung der wöchentlichen Stundenzahl von 4 Stunden in der 8. auf 3 Stunden in der 9. und der 10. Klasse. Als Lehrer steht man dann vor folgendem Problem: zum einen muß der nach wie vor umfangreiche Stoff trotz Stundenkürzung bewältigt werden; zum anderen möchte man den Schülern ein breites Feld zur freien Äußerung erhalten; schließlich will man Themen bearbeiten lassen, die über das Lehrwerksangebot hinaus das spezifische Interesse der gerade unterrichteten Gruppe treffen. Wie ist das Problem zu lösen? 2. Methodische Vorschläge 2.1 Zeit einsparen bei der Stoffdurchnahme Zunächst muß betont werden, daß die Zeit für die Behandlung von lehrwerkunabhängigen Inhalten nicht über eine Vernachlässigung des Lehrstoffes gewonnen werden kann. Das Lehrwerk stellt das Rückgrat des Unterrichts dar und vermittelt den Schülern Sicherheit. Nur wenn das Buch systematisch durchgenommen wird, haben Schüler und Eltern das Gefühl, daß "gelernt" wird. Zeit muß also durch eine Rationalisierung der Stoffdarbietung, -einübung und -wiederholung gewonnen werden. In den vorangehenden didaktischen Briefen wurde bereits erwähnt, daß die Schüler bei der Lektionsdurchnahme oft ökonomischer vorgehen als der Lehrer: neue Wörter, die leicht verständlich sind, werden nicht eigens vorgestellt, die Texte werden nur ein- oder zweimal gelesen, die über den Text gestellten Fragen beschränken sich auf ein Minimum (vgl. Anlage I: "Conseils pour la présentation d'une leçon"). Wichtig ist vor allem, daß Wortschatz und Grammatik im Anschluß an die Präsentation sehr genau memoriert werden, denn sie stellen die Quintessenz einer Lektion dar. So werden alle Übungen durchgenommen - ob im Plenum oder in Partnerarbeit -, das Übungsheft wird ebenfalls ganz bearbeitet und so oft wie möglich vom Lehrer korrigiert. Am Anfang der Unterrichtsstunden werden kleine Wortschatz- und Grammatiktests durchgeführt. Auf diese Weise wird zwar Zeit bei der Textbehandlung eingespart, der progressionsrelevante Lektionsstoff wird aber weiterhin gründlich erlernt. 2.2 Freies Sprechen Bei traditionellen Verfahren führt die Reduktion der Stundenzahl in der Mittelstufe zu einer drastischen Verminderung der Zeit, die den Schülern für das freie Sprechen eingeräumt wird. Denn freies Sprechen beansprucht viel Zeit, und der Lehrer steht unter dem Druck, Stoff zu vermitteln. Durch die Übertragung von Lehrfunktionen auf die Schüler wird dieses Problem gelöst, weil die beauftragten Schüler beim Vermitteln der Inhalte eben frei sprechen. Dadurch bleibt der Raum für zahlreiche und authenti-sche Äußerungen auch in der Mittelstufe erhalten. Auf diesen Umstand führe ich zurück, daß meine Schüler keinen Motivations-verlust erlitten. Wenn es darüber hinaus gelingt, nicht nur das Gespräch im Plenum, sondern auch in Partnerarbeit auf französich zu gestalten, so bleibt trotz Stundeneinbußen die Sprechzeit der Schüler auch in der Mittelstufe auf einem relativ hohen Niveau. 2.3 Die lehrwerkergänzenden Aktivitäten (1) Es wurde bereits erwähnt, daß die lehrwerkergänzende Arbeit auf Grund der geringen Stundenzahl begrenzt bleiben muß. Es stellt sich natürlich die Frage, ob solche Aktivitäten überhaupt notwendig sind. Ich meine ja, weil aktuelle Interessen der Schüler aufgegriffen und lernbezogen umgesetzt werden sollen. Im folgenden werden drei Arbeitsformen vorgestellt, die lehrwerkunabhängig eingesetzt werden können. 2.3.1 Diskussionen In der zehnten Klasse habe ich am Anfang des Schuljahres eine Liste von Themen erstellen lassen, die die Schüler besprechen wollten. Diese Liste wurde nie benutzt, weil Diskussionen nicht langfristig planbar sind. Sie entstehen aus aktuellem Anlaß, meist auf dem Hintergrund der im Unterricht gerade durchgenommenen Thematik. Wenn ich also verspüre, daß aus dem Unterricht heraus das Interesse für ein Thema wächst, bitte ich zwei Schüler, eine entsprechende Diskussion zu planen und durchzuführen. Organisatorisch verläuft es folgendermaßen:
Kurzvortrag und Diskussion dürfen nicht mehr als 15 Minuten beanspruchen. Anlage II zeigt die Übersicht, die Schüler auf einer Folie im Hinblick auf eine Diskussion über Probleme zwischen Schülern und Lehrern (thematischer Zusammenhang: Cours de base 3, Dossier 4, "Les soucis d'un lycéen") erstellt haben. 2.3.2 Die Behandlung von Gedichten Als Lehrer verfügt man über zahlreiche Gedichtsammlungen mit Fragen zu den Texten und dazugehörigen Lehrerheften. Als Beispiel nenne ich Rudolf Schneiders "Poésie et créativité" (Langenscheidt 1985). Im Zusammenhang mit dem bereits genannten Dossier 4 in Cours de base 3 (Thematik: "Les soucis d'un lycéen") behandle ich das Gedicht Le cancre von Prévert. Zwei Schüler werden mit der Vorbereitung und Durchführung beauftragt. Dazu bekommen sie Schneiders Sammlung (siehe Anlage III). Zu Hause sollen sie aus Schneiders Angebot die Arbeitsanweisungen und die Fragen zum Text herauswählen, die ihnen für die Klasse interessant erscheinen, und womöglich durch eigene Vorschläge erweitern. Im folgenden wird der Ablauf der von den Schülern gesteuerten Unterrichtssequenz wiedergegeben:
Die Auswertung wird dann so vorgenommen, daß die verantwortlichen Schüler einige Zeichnungen herauswählen und an die Leinwand projizieren. Sie bitten andere Schüler als die Autoren der jeweiligen Bilder Interpretationen zu liefern: "Marcus, c'est le bonheur ou le malheur? Eva, qu'est-ce que tu as pensé en dessi-nant cela?" 2.3.3. Reise ins Zielland (2) Durch eine Frankreichreise oder noch besser einen Austausch wird in der Mittelstufe ein unersetzbarer Erlebnis- und Erkenntnisgewinn erreicht. Die Vorbereitung eines solchen Vorhabens sollte in den Unterricht einbezogen werden, allerdings ist auch hier darauf zu achten, daß diese Arbeit nicht allzuviel Zeit in Anspruch nimmt. Besonders günstig für Lernprozesse ist es, wenn man im Zielland Erkundungsaufträge durchführen läßt, die zu Hause als Grundlage für einen Vortrag benutzt werden. Die Durchführung eines solchen Projektes verlangt eine gründliche psychische und technische Vorbereitung. Im Anhang ist ein Arbeitsblatt abgedruckt, das als Einstimmung auf einen Aufenthalt in der Partnerstadt benutzt wurde und kleine Erkundungsaufträge enthält (siehe Anlage IV, "Méthode à ap-pliquer au cours du prochain séjour à Torcy"). In der Partnerschule sollten Interviews mit Schülern, und wenn möglich mit Lehrern oder sogar mit dem Schulleiter/der Schulleiterin durchgeführt werden. Die Interviewfragen sollten vor der Reise im Unterricht vorbereitet werden. Das Ergebnis der Erkundungen wird im Rahmen eines Elternabends folgendermaßen vorgetragen : (3)
Die Darstellungen werden durch Skizzen, Tonbandaufnahmen und Dias veranschaulicht. II. Die 11.Klasse 1. Zur allgemeinen Situation Zwischen der Klasse 10. und der 11.Klasse erfolgt erneut eine Verschiebung der Motivationslage. Stofflich ist die Arbeit mit dem Lehrwerk weitgehend abgeschlossen und der Unterricht konzentriert sich in erster Linie auf die Wiederholung der Grammatik und die Einführung der Arbeitsform "Textaufgabe". Leicht kann bei den Schülern der Eindruck entstehen, daß nichts Kohärentes, Geschlossenes gelernt wird. Insbesondere läßt die Arbeit an Dossiers oft das Gefühl aufkommen, daß man sich mit Allerweltsthemen beschäftigt, die kein frankreichspezifisches Wissen aufbauen, oder daß Nebenaspekte ausführlich besprochen werden, während Synthese und Überblick fehlen. Daher stellt man in der 11.Klasse ein Auflösen der Motivation fest, vor allem bei Schülern, die am Ende dieser Jahrgangsstufe das Fach Französisch ablegen. 2. Methodischer Vorschlag (4) Um dem Gefühl der Beliebigkeit entgegenzuwirken, das bei der Dossierarbeit aufkommt, sollte man ergänzend eine systematische Durchnahme der historischen und geographischen Grunddaten des Ziellandes vornehmen (5). Bald merken die Schüler, daß sie ein Orientierungswissen erwerben, das auf jeden Fall nützlich ist: wenn sie nach der 11. das Fach Französisch ablegen, bekommen sie einen abschließenden Überblick über strukturelle, also relativ überdauernde Merkmale des Nachbarlandes; wenn sie später einen Leistungskurs im Fach Französisch besuchen, verfügen sie über eine stabile Wissensbasis. Ich besitze einen Klassensatz von Geschichts- und Geographiebüchern, die ich aus Frankreich bezogen habe und die für etwa 12-jährige Franzosen gedacht sind. Es handelt sich um: Nembrini et al:, Pour connaître la France. Géographie CM, bzw. Histoire CM, (Hachette 1985). Diese Lehrwerke haben den Vorzug, daß sie Frankreichs Grunddaten klar und anschaulich darbieten und daß sie von Schülern aus der 11.Klasse sprachlich gut zu bewältigen sind. Das Buch wird kapitelweise aufgeteilt und zwar so, daß eine Arbeitsgruppe jeweils ein Kapitel vorzustellen hat. Jede Gruppe:
Dieser Stoff kann dann als Hausaufgabe aufgegeben werden. Auf diese Weise entsteht eine Sammelmappe von Kurzreferaten, die einen Überblick über Frankreichs Geographie und Geschichte vermitteln. AUSBLICK Meine didaktischen Briefe habe ich, wie Sie wissen, auf dem Hintergrund einer Langzeitstudie entwickelt, bei der ich eine Klasse in der 7. übernommen und bis heute kontinuierlich unterrichtet habe. Aus der 7.Klasse ist nun eine 13. geworden und wir schreiben in einem Monat das Abitur. Auch im Leistungskurs konnte ich Erfahrungen sammeln. Sie werden Gegenstand meines nächsten didaktischen Briefes sein (6). BIBLIOGRAPHIE Weiter zitierte Publikationen Erdle-Hähner,R.;Rolinger,H.;Wüst,A.(1972):Etudes Françaises - Cours de base - Premier degré, Stuttgart Erdle-Hähner,R.;Freitag; Matthes,D. und K.(1974):Etudes Françaises - Cours de base - Troisième degré, Stuttgart Graef,R. (1990): "Lernen durch Lehren - Anfangsunterricht im Fach Französisch." In: Der Fremdsprachliche Unterricht, Nr.100, 10- 13 Martin,J.-P.(1992): "Literatur und Selbstreflexion auf der Oberstufe", in: v.Bömmel/Christ,H./Wendt,M.(Hg.)(1992): Lernen und Lehren fremder Sprachen, Tübingen, 130-146 Nembrini et al. (1985): Pour connaître la France. Géographie CM, bzw. Histoire CM, Paris: Hachette Schneider, Rudolf (1985): "Poésie et créativité", Langenscheidt.
CONSEILS POUR LA PRESENTATION D'UNE LEÇON GRAMMAIRE
TEXTE I. Courte présentation du vocabulaire inconnu II. Présentation des idées du texte:
III. Lecture du texte IV. Traduction
V. Questions sur le texte et discussion si le sujet s'y prête VI. Relire le texte en tandem
ANLAGE II (Von den Diskussionsleitern zu Hause erstellte Folie) SUJET: LES RELATIONS ENTRE LES PROFS ET LES ELEVES THESES Il y a trois catégories de relations:
Question: Comment un professeur doit-il se comporter pour que le cas idéal soit réalisé?
VOCABULAIRE NECESSAIRE POUR LA DISCUSSION la relation = das Verhältnis
Le
cancre
(le cancre: Faulpelz schlechter Schüler) Jacques Prévert, Paroles (1946) Gallimard Phase créative
Phase explicative
(Aus: Rudolf Schneider, Poésie et créativité, Langenscheidt 1985)
METHODE A APPLIQUER AU COURS DU PROCHAIN SEJOUR A TORCY Pour comprendre les gens chez qui on vit il faut être informé de façon précise sur les structures dans lesquelles ils vivent eux-mêmes. Comme cela on comprend mieux aussi leurs problèmes. Quand on comprend mieux leurs problèmes, on peut mieux éviter les conflits, ou si les conflits sont inévitables, on peut mieux les régler. Par exemple: si je vis chez ma correspondante algérienne et que je veux sortir le soir, mais que celle-ci ne veuille pas, je suis d'abord mécontente et fâchée après elle. Mais si je sais que chez les Algériens les jeunes filles ne doivent jamais sortir seules, je comprendrai mieux ma correspondante et j'éviterai un conflit. Donc: mieux connaître c'est mieux comprendre. Mieux comprendre c'est mieux aimer. Mieux aimer, c'est avoir moins de conflits. Donc, il faut développer et automatiser les techniques suivantes:
Technique Noter chaque jour ce qui me frappe positivement ou négativement
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